Die Kurdin Eylem Acar absolviert ein FSJ im Seniorenheim Friedensau. Wir haben Sie dort besucht.


Ja, ja, das liebe Ch – wird es nun hart ausgesprochen wie bei Charakter und Christen? Oder weich wie bei Chopin und Chefin? Dann die kleinen Pünktchen auf ä, ö, ü – echte Zungenbrecher; die richtigen Artikel der Substantive – eine tägliche Herausforderung.

So ziemlich jeden Abend hockt Eylem Acar über den Büchern, um an ihrer deutschen Grammatik zu feilen. Deutsch gesprochen wird tagsüber im Seniorenheim Friedensau. Hier leistet die ausgebildete Hörgeräteakustikerin, die in der Türkei geboren wurde und deren Muttersprache Kurdisch ist, seit März 2021 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). „Ich selbst hatte weder Opa noch Oma, arbeite in meinem Beruf jedoch meist mit Senioren. Die wollte ich kennenlernen, um mich besser in sie, ihre Wünsche und Bedürfnisse hineinversetzen zu können. Diese Möglichkeit habe ich in Friedensau, kann zugleich mein Deutsch verbessern und mehr über die deutsche Kultur erfahren“, erzählt sie. Über ihr ältere Schwester Ruken fand sie ins Jerichower Land: „Die arbeitet hier seit zwei Jahren als Physiotherapeutin.“

Hier steppt der Bär

Eingesetzt ist Eylem Acar in der sozialen Betreuung. „Ich helfe den Senioren, ihre Freizeit gut zu verbringen. Wir machen zusammen Spaziergänge, rätseln, basteln, treiben ein bisschen altersgerechten Sport, ich lese etwas vor oder höre ihnen einfach nur zu. Das ist fast das Wichtigste hier.“

Heute treffen wir sie auf der Demenzstation, wo Michi schon für eine kleine Sporteinheit mit dem Ball nach ihr ruft. „Michael Neumann, mit 47 Jahren unser jüngster Bewohner“, erklärt Pflegedienstleiterin Katja Hunger. „Er ist behindert und lebt jetzt mit seiner an Demenz erkrankten Mutter bei uns, weil die ihn nicht mehr selbst pflegen kann.“ Aber auch alle anderen Bewohner verbringen gern Zeit mit der ruhigen, einfühlsamen 26-Jährigen. „Wenn ich ihnen zum Beispiel aus der Zeitung vorlese und dabei etwas nicht verstehe oder ein Wort falsch ausspreche, dann sind sie mit Feuer und Flamme am Erklären“ – das sei für beide Seiten gewinnbringend.

Besonders beliebet bei den Senioren sind Spaziergänge, Zeit in der Natur. „Wir haben den Wald ja gleich vor der Haustür. Ich schnappe mir dann eine oder einen von ihnen im Rollstuhl, und wer noch mitwill, läuft mit.“

Apropos Wald: Lebt es sich nicht etwas einsam hier im abgelegenen, ländlichen Friedensau? „Einsam? Friedensau? Keine Spur!“ Die beiden Frauen lachen und die Pflegedienstleiterin klärt auf: „Hier gibt’s ja die Theologische Hochschule mit Studierenden aus aller Welt. Afrika, Amerika, Osteuropa ... in Friedensau steppt der Bär, hier sind alle Kulturen vertreten. Das gilt auch für unser Haus. Wir haben viele Mitarbeitende mit Migrationshintergrund. Zum Beispiel aus Kenia, von den Philippinen, eine weitere FSJlerin in der Pflege, die aus Kolumbien stammt.“ Und da sei ja auch noch Eylems Freund, der ein FSJ in der Bibliothek in Friedenau macht. Seit acht Jahren sind die beiden zusammen und wollen sich jetzt in Deutschland eine gemeinsame Zukunft aufbauen.

Geben und Nehmen

Für Eylem geht das Freiwillige Soziale Jahr zunächst aber erstmal in eine sechsmonatige Verlängerung. Später dann will sie weiter ihren Beruf als Hörgeräteakustikerin ausüben – vorzugsweise in Berlin. Dafür nehme sie jede Menge tolle Erfahrungen aus Friedensau mit. Fachlich, vor allem aber zwischenmenschlich. „Für mich ist das Zusammensein mit älteren Menschen extrem wertvoll. Gerade auch, wenn sie von früher erzählen – sie haben so viel Lebenserfahrung.“ Und für die Zuwendung, die man ihnen entgegenbringe, erfahre man so viel Dankbarkeit. Dafür, dass sich jemand Zeit für sie nehme, auch mal die Hand halte. Das sei ein Geben und Nehmen.

Dies bestätigt auch Katja Hunger: „Wir erfahren hier Werte, die in der Gegenwart oft drohen, abhanden zu kommen. Von denen ich aber überzeugt bin, dass jeder junge Mensch damit in Berührung kommen sollte. Wir tun das hier auf unsere Weise, indem wir zum Beispiel regelmäßig Besuche von Friedensauer Kindergartenkindern bekommen, indem wir gemeinsam Veranstaltungen wie Zirkusvorstellungen besuchen. Indem sich Studierende aus der Nachbarschaft etwas bei uns dazuverdienen und dabei den Kontakt zu unseren Seniorinnen und Senioren pflegen. Von diesem Miteinander profitieren immer alle Beteiligten.“

Drei Fragen an Pflegedienstleiterin Katja Hunger

Wer kann ein FSJ im Seniorenheim machen?

Im Grunde jede und jeder zwischen 16 und 27 Jahren. Das sind zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, die sich nach der Schule beruflich orientieren wollen. Zu uns kommen genauso aber auch junge Menschen aus aller Welt, denen wir ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Pflege beziehungsweise im Sozialen Dienst anbieten können. Dabei arbeiten wir eng mit den IJGD, den internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten, zusammen. Die vermitteln, prüfen die Anforderungen und bearbeiten die Anträge. Wir stellen Wohnraum und Verpflegung zur Verfügung.

Wie muss man sein, um hier bei Ihnen eingesetzt zu werden?

Man muss Einfühlungsvermögen haben, empathisch sein, Menschen mögen – das sind die Grundvoraussetzungen. Wichtig sind auch ein Herz für Senioren und keine Berührungsängste.

Ist das Seniorenheim auf FSJler angewiesen?

Rein vom Personalschlüssel sind wir auch ohne sie gut aufgestellt. Aber sie sind uns dennoch sehr willkommen, weil wir sie als Bereicherung empfinden. Als zusätzliche Kräfte, die lernen und arbeiten möchten. Und unsere Bewohner profitieren natürlich davon, dass noch jemand da ist, der sich zusätzlich Zeit für sie nehmen kann.